Containerhafen in Casablanca, Marokko

Marokko ist längst mehr als eine „günstige Werkbank“: Die Region Orientale im Nordosten entwickelt sich mit dem Tiefseehafen Nador West Med zu einem strategischen Industrie‑ und Logistikstandort. Welche Chancen sich deutschen Mittelständlern jetzt bieten, berichtet Hicham El Founti von der ENA International – vorausgesetzt, sie begegnen dem Markt mit fundierter Vorbereitung, lokaler Verankerung und klarer Personal‑ und Governance‑Strategie. 

"Komplexität nicht unterschätzen"

Hicham El Founti Hicham El Founti

Herr El Founti, Sie beraten deutsche Firmen zum Markteinstieg in Marokko. Was ist das größte Missverständnis, das Ihnen begegnet?

Marokko wird manchmal fälschlicherweise als „günstige verlängerte Werkbank“ gesehen – ein bisschen Sonne, niedrige Löhne, fertig. So funktioniert es heute nicht mehr. Marokko ist ein eigenständiger und innovativer Industrie- und Investitionsstandort mit klarer Industriepolitik, eigenem Rechtsrahmen und einem sehr wachen Staat, der genau hinschaut, ob Projekte Substanz haben. Wer nur mit der Mentalität „Wir verlagern mal schnell etwas Produktion, um Kosten zu senken“ kommt, scheitert meistens an der Realität: Dokumentationspflichten, Zoll- und Devisenregeln, Steuerthemen, Qualitäts- und Lieferkettenanforderungen.

Das zweite Missverständnis: Viele glauben, Marokko bestehe aus Casablanca, Tanger und „dem Rest“. Mein Fokus liegt auf der Region Orientale – und dort entstehen gerade sehr konkrete Chancen, die oft noch gar nicht gesehen werden.

Ehrlich gesagt: Das größte Risiko für deutsche Firmen ist nicht Marokko, sondern die eigene Unterschätzung von Komplexität. Wer den Standort ernst nimmt und sauber vorbereitet, hat dagegen sehr gute Karten.

Hicham El Founti ist Geschäftsführer von ENA International Consulting, der ersten deutsch-marokkanischen Wirtschaftsberatung in der Region Orientale. Er begleitet deutsche Mittelständler beim Aufbau von Unternehmens- sowie Produktions- und Lieferkettenstrukturen in Marokko. Herr El Founti ist Vorstandsmitglied und Schatzmeister der AHK Marokko.

Erzählen Sie uns mehr über die Region Orientale. Welche Vorteile bietet diese für Unternehmen?

Die Region Orientale – mit Nador und Oujda als Knotenpunkten – ist so etwas wie die „noch unterschätzte Linie“ zwischen Europa und Afrika. Die Nähe zu Europa ist ein zentraler Vorteil durch die kurzen Seeverbindungen. Deutsche Firmen treffen hier auf deutlich niedrigere Personal-, Energie- und Immobilienkosten als in Westeuropa – bei gleichzeitig guter Handwerksqualität. Das macht gerade für mittelständische Unternehmen einen echten Unterschied in der Gesamtstückkostenrechnung. 

Unternehmen profitieren auch von der politischen und makroökonomischen Stabilität: Die Investitionscharta, Steuer- und Zollregelungen, die gezielt Industrie- und Exportprojekte fördern – das alles sind harte Standortfaktoren, die Investoren spüren.

Außerdem ist die Region noch nicht „überlaufen“: Im Vergleich zu großen Metropolen sind beispielsweise die Industrieflächen weniger überzeichnet. Man kann Projekte mitgestalten.

Man liest viel zum Prestigeprojekt des Hafens Nador West Med. Er soll einer der größten Tiefseehäfen Afrikas werden. Wie ist der aktuelle Stand und wie können sich deutsche Unternehmen beteiligen?

Nador West Med ist für die Region Orientale so etwas wie der Game Changer – auch in meinen eigenen strategischen Überlegungen spielt der Hafen eine zentrale Rolle. Es ist ein Tiefseehafen mit Industrie- und Logistikzonen im Hinterland, der darauf ausgelegt ist, große Umschlagsmengen und industrielle Ansiedlungen zu bündeln. Die Eröffnung ist für das 3. Quartal 2026 geplant. 

Ich spreche regelmäßig mit Akteuren, die den Hafen in ihren 2030-Strategien mitdenken. Für mich ist entscheidend: Es geht nicht nur um Container und Tanks, sondern um Ökosysteme – also Logistik, Energie, Industrie, Dienstleistungen, Ausbildung.

Was ich deutschen Firmen immer klar sage: Der Hafen ist kein Selbstläufer. Wer früh kommt, kann noch mitgestalten – aber er muss mit einem belastbaren Business Case, institutioneller Verankerung und lokalem „Footprint“ auftreten.

Hafen Nador West Med: Chancen für deutsche Unternehmen 

•    Engineering, Planung, Digitalisierung
– Hafen-IT, Automatisierung, Sicherheits- und Steuerungssysteme, Energie- und Umwelttechnik.
•    Logistik- & Terminalbetreiber, Speditionen, Reederei-Zulieferer
– also alles, was Wertschöpfung um den Umschlag herum erzeugt.
•    Industrieansiedlung in den Zonen
– Fertigung, Montage, Komponentenbau, die direkt von der Hafeninfrastruktur profitieren und Exportströme bündeln.

Frühzeitig Personalstrategien mitdenken

Wie sieht es denn mit der Fachkräftesituation in der Region aus?

Es gibt Fachkräfte – aber sie fallen nicht vom Himmel. Wir haben Universitäten, Fachhochschulen und Berufsausbildungszentren im weiteren Umfeld. 

In der Praxis sehe ich drei Gruppen:
1. Gute Basisprofile, die mit klaren Prozessen und Weiterbildung in relativ kurzer Zeit auf deutsches Industriestandard-Niveau gebracht werden können.
2. Rückkehrer / Diaspora, die in Deutschland, Frankreich oder Spanien gelernt und gearbeitet haben – oft mit Fremdsprachen, Qualitätsbewusstsein und Verständnis für deutsche Unternehmenskultur.
3. Lokale Unternehmer und Meister, die fachlich stark und gut ausgebildet sind. Hier schafft ein gezielter Wissenstransfer die notwendige Verbindung.

Das Problem ist jedoch weniger „Mangel“, sondern das Matching: Viele Unternehmen unterschätzen, wie viel Arbeit in Aufbau von Teams, Schulung, Kultur, Arbeitszeitmodellen und Führung steckt. Hier leisten beispielsweise die Berufsausbildungszentren im Land einen sehr wichtigen Beitrag.

Mein Ansatz mit der ENA International ist daher immer, früh Personalstrategie mitzudenken, gezielt mit Berufsausbildungszentren, Unis und Hochschulen zu arbeiten und von Anfang an klare Standards (Sicherheit, Qualität, Dokumentation) zu setzen.

Wie können Sie deutsche Firmen konkret beim Markteintritt unterstützen?

Wir sind kein „klassischer Vermittler“, der nur Kontakte weitergibt, sondern begleiten Unternehmen sehr operativ – oft über Jahre. Typischerweise in diesen Schritten:

1. Strategische Standort- und Branchenklärung: Passt Marokko wirklich zum Geschäftsmodell? Ist die Region Orientale sinnvoll – oder eher eine andere Region? Wie sieht ein realistisches 2030-Zielbild aus?
2. Strukturierung & Governance: Rechtsform, Beteiligungsstruktur, Rolle der Gesellschafter, Klare Trennung von operativer Steuerung und Gesellschafter-Ebene.
3. Behörden, Förderprogramme, Institutionen: Zusammenarbeit mit der GTAI, der AHK Marokko und dem Team Germany, Austausch mit dem Regionalen Investitionszentrum (CRI) und regionalen Behörden, Einbindung von deutschen und marokkanischen öffentlichen Akteuren.
4. Operationelle Umsetzung: Unterstützung bei Verhandlungen, Verträgen, Zoll- und Devisenfragen, Aufbau von Buchhaltung, Reporting, Compliance nach marokkanischem DOC-Recht – inklusive Risikoanalyse von Jahresabschlüssen.

Haben Sie zum Schluss noch etwas, auf das Sie deutsche Firmen hinweisen möchten? 

Drei Punkte gebe ich Unternehmen immer mit auf den Weg. Erstens: Marokko ist kein Projekt, sondern eine Beziehung. Wer nur ein Drei-Jahres-Kalkulationsblatt im Kopf hat, wird enttäuscht. Man braucht Präsenz, Dialog, Anpassungsfähigkeit – und idealerweise jemanden vor Ort, der die Sprache spricht, die Kultur versteht und auch unangenehme Wahrheiten ausspricht.

Zweitens: frühzeitig institutionelle Partner einbinden. GTAI, die AHK Marokko, das Regionale Investitionszentrum (CRI), lokale Behörden, Banken und Berufsausbildungszentren sind Beschleuniger – wenn man sie richtig einbindet. Wer diese Partner von Anfang an in einen strukturierten Projektfahrplan integriert, gewinnt Handlungssicherheit und behördliche Rückendeckung.

Und zuletzt: die lokale Wertschöpfung ernst nehmen. Das Königreich honoriert Unternehmen, die nicht nur importieren und exportieren, sondern echte lokale Wertschöpfung aufbauen: Ausbildung, Transfer von Know-how, Qualitätssicherung, klare Strukturen. Projekte, die diese Elemente mitdenken, erhalten verstärkte Unterstützung und bauen langfristige Resilienz auf.

Das Interview führte Samira Akrach von Germany Trade & Invest im November 2025.

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